Stereoscope ist ein webbasierter Prototyp zur Visualisierung von hermeneutischen Prozessen und Argumentationen in den Literaturwissenschaften. Literaturwissenschaftler und Literaturwissenschaftlerinnen können ihre manuell erstellten digitalen Annotationen in Gestalt von verschiedenen Visualisierungen repräsentieren und so qualitative Aussagen über die Annotationen visuell festhalten und vermitteln. Durch verschiedene visuelle Repräsentationen werden unterschiedliche Perspektiven auf die Annotationen ermöglicht, die in Kombination mit Kommentaren und Tags Literaturwissenschaftlern und Literaturwissenschaftlerinnen Mittel an die Hand geben, um Argumentationen zu konstruieren und transparent zu machen.
Aktivitäten wie das Annotieren, Vergleichen und Repräsentieren sind essentieller Bestandteil interpretativer Prozesse in der Literaturwissenschaft. Auch wenn viele digitale Applikationen diese Aktivitäten erlauben, so ermöglichen sie doch in der Regel nicht das Entstehen interpretativer und im speziellen hermeneutischer Arbeitsabläufe im Digitalen. Warum ist das so?
In unserer Forschung argumentieren wir, dass das Problem in der Missachtung der Prämissen hermeneutischer Theorie liegt und dass digitale Applikationen diesen Prämissen gerecht werden sollten, um hermeneutische Interpretationsprozesse zu ermöglichen.
Datenvisualisierung kann hier eine Schlüsselrolle einnehmen, indem sie interpretierende Tätigkeiten unterstützt und neue Perspektiven auf die Daten bzw. Annotationen zulässt, die weit über die Möglichkeiten des Analogen hinausgehen.
Als Richtlinien haben wir vier Postulate zur Gestaltung solcher Werkzeuge entwickelt, die in unserem Artikel Towards Hermeneutic Visualization in Digital Literary Studies (unter Begutachtung; eingereicht bei Digital Humanities Quarterly im Oktober 2018) beschrieben werden. Als exemplarischer Prototyp wurde Stereoscope unter Berücksichtigung dieser Postulate entwickelt.
Das Interface von Stereoscope besteht aus drei Teilen. Auf der linken Seite befindet sich der zu untersuchende annotierte Text, der Canvas in der Mitte des Interfaces zeigt eine von mehreren möglichen visuellen Repräsentationen der Annotationen, aus denen Nutzer und Nutzerinnen auswählen können. Annotationen im Text und ihre jeweiligen Repräsentationen als Kreise auf dem Canvas sind eng miteinander verknüpft. Eine Veränderung einer Annotation in dem einen Bereich führt zu einer Veränderung der visuellen Erscheinung in beiden Bereichen. Nutzer und Nutzerinnen können durch das Verändern der visuellen Form qualitative Attribute der Annotationen verändern und speichern.
Die Spalte auf der rechten Seite dient der Erzeugung und Verwaltung unterschiedlicher Views, die von Nutzern und Nutzerinnen erstellt wurden. Diese können sich hinsichtlich Visualisierung, ausgewählter Zoomstufe und qualitativer Attribute der Annotationen unterscheiden. Durch das Hinzufügen von Kommentaren und Tags können Argumentationen in der Views-Spalte aufgebaut und vermittelt werden.
Möchten Sie Stereoscope gerne mit Ihren eigenen Annotationsdaten verwenden? Mit dem Annotationstool CATMA können Sie Texte annotieren und Ihre Annotationen als JSON-Datei exportieren. Die JSON-Annotationsdatei kann dann zusammen mit der dazugehörigen Textdatei in Stereoscope importiert werden. Da diese Funktionalität experimenteller Natur ist, muss sie von uns extra freigeschaltet werden. Bitte kontaktieren Sie dazu das CATMA-Team unter: catma-support@catma.de und bitten Sie darum, den JSON-Export für Sie freizuschalten.
Interaktive Datenvisualisierung hat seinen Ursprung in den Naturwissenschaften. Erst seit kurzer Zeit wird Datenvisualisierung auch in der digitalen Literaturwissenschaft angewendet (und in den digitalen Geisteswissenschaften im Allgemeinen).¹ Der Einsatz herkömmlicher Datenvisualisierungstechniken in den digitalen Geisteswissenschaften hat allerdings in Teilen der Community zu heftiger Kritik geführt. In ihrem Artikel Humanities Approaches to Graphical Display² bemängelt Drucker den unkritischen Einsatz von Datenvisualisierung, um interpretative Tätigkeit darzustellen und macht auf die unterschiedlichen epistemologischen Grundlagen der Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften aufmerksam.
Datenvisualisierungen sind bestimmt durch eine Auffassung von beobachterunabhängigen Daten (»observer-independent data«), die eine vermeintlich objektive Beschreibung von Zuständen a priori gäben (»mere descriptions of a priori conditions«). In den Geisteswissenschaften berufe sich die Erkenntnisproduktion aber auf konstruktivistische Prinzipien: »Humanistic inquiry acknowledges the situated, partial and constitutive character of knowledge production«.
Im Forschungsprojekt 3DH sind wir der Frage nachgegangen, wie Visualisierungen aussehen müssten, die diese Voraussetzungen interpretativer Tätigkeit berücksichtigen. Der Fokus lag auf dem Bereich der Hermeneutik, der ältesten Theorie zur Interpretation von Texten. Ausgehend von den Prämissen hermeneutischer Theorie haben wir Richtlinien entwickelt, die bei der Gestaltung hermeneutischer Visualisierungen helfen sollen. Stereoscope ist eine exemplarische Implementierung hermeneutischer Visualisierung, die unter Berücksichtigung dieser Richtlinien entwickelt wurde.